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Der Adler über dem Mittelmeer


Pascal Stadelmann arbeitet seit fünf Jahren ehrenamtlich für die Stiftung «Humanitarian Pilots

Initiative». Auf der Suche nach Flüchtlingsbooten fliegt der Luzerner Pilot dabei Einsätze über dem Mittelmeer.


von Pascal Vogel


Rund 200 Kilometer südlich von Sizilien liegt Lampedusa. Die gerade einmal 20 Quadratkilometer kleine Insel ist bekannt für ihre traumhaften Strände und glasklares Wasser. Vielmehr schrieb sie in den vergangenen Jahren jedoch Schlagzeilen aus einem anderen Grund: Tausende Flüchtlinge gelangen Jahr für Jahr über die südliche Mittelmeerroute auf die Insel (siehe Kasten). Doch längst nicht alle schaffen es. Immer wieder kentern Boote und geraten in Seenot. Genau dies verhindern und somit Menschenleben retten will Pascal Stadelmann. Seit fünf Jahren arbeitet der Luzerner ehrenamtlich für die Stiftung «Humanitarian Pilots Initiative» – kurz HPI.

«Wir Schweizer sind extrem privilegiert und haben alles. Mein Anspruch ist es, etwas von diesem Glück zurückzugeben und in Not geratenen Menschen zu helfen», sagt er. Am Ursprung seines ehrenamtlichen Engagements liegt das Hinterland, genauer gesagt Dagmersellen, Nebikon und Willisau. Als soziokultureller Animator heisst er 2016 und 2017 die Flüchtlinge in den Asylunterkünften willkommen. Die Geschichten und die Gesichter der vor allem aus Eritrea stammenden Menschen hinterlassen beim Mann aus Schwarzenberg nachhaltig Spuren. «Die hatten gerade die Überfahrt übers Mittelmeer hinter sich und mussten Schreckliches erlebt haben. Das hat mir zu denken gegeben», sagt er. Vom Linienpilot zum humanitären Helfer Die Gedanken lassen ihn auch nicht los, als er seine Ausbildung zum Linienpilot abgeschlossen hat und im Cockpit der Swiss sitzt. «Ich habe nie eine reine Airline-Karriere angestrebt», sagt er. Als Stadelmann auf einen Artikel von HPI stösst, fackelt er nicht lange und hilft mit, den ersten Flieger flugtauglich zu machen. Die Organisation gibt ihm eine Perspektive, um eine Symbiose zwischen seinen zwei Leidenschaften zu schaffen: Fliegen und humanitäre Hilfe zu leisten. Bis Stadelmann jedoch im Cockpit der «Seabird» sitzt, ziehen noch einige Monate ins Land. «Anfangs war alles ziemlich unorganisiert. Sie haben meine Mail schlicht vergessen», sagt er und lacht. Seither setzt sich der «Chief Operating Officer» für eine Professionalisierung ein.


Eigentlich arbeitet der 32-Jährige hauptberuflich als Linienpilot bei der Swiss. Als die Coronapandemie den Luftverkehr jedoch lahmlegte, verschrieb er sich ganz dem humanitären Projekt. Noch bis Oktober ruht sein Arbeitsverhältnis mit der Fluggesellschaft. Heisst gleichzeitig, dass Stadelmann ein gesichertes Einkommen fehlt. «Um mich über Wasser zu halten, muss ich den Gürtel sehr eng schnallen», sagt er. Deshalb hat er sich über den Winter, wenn nur wenig Boote auf dem Mittelmeer unterwegs sind, nach Südamerika begeben. Nicht etwa, um Ferien zu machen. Von Ecuador aus baut er die Organisationsentwicklung weiter auf, führt via Videotelefonie Gespräche mit möglichen Partnern und treibt die Professionalisierung der Stiftung voran. «Alles, was ich momentan brauche, ist eine gute Internetverbindung, ein wenig Wärme und dies alles zu einem günstigen Preis.»


Die Suche nach der Nadel im Heuhaufen Pazifikküste statt Mittelmeerinsel. Mehr als 10 000 Kilometer trennen Pascal Stadelmann momentan von seinem eigentlichen Einsatzgebiet auf Lampedusa. In drei Monaten greift er wieder vor Ort ins operative Geschäft ein. Der kommende Tag beginnt dann in der Regel am Vorabend, wenn Sea-Watch, eine Partnerorganisation von HPI, bestimmt, ob am nächsten Tag geflogen wird. «Wir haben sehr viel Erfahrung und wissen, wann es für Boote möglich ist, die Brandung in Libyen zu passieren und wann die Wellen zu hoch sind», sagt Stadelmann. Nach einem administrativen Kraftakt geht es auf den durchschnittlich sechs- bis achtstündigen Flug. Eine halbe Stunde dauert es, bis die «Seabird» im Einsatzgebiet angelangt ist und die Suche nach der Nadel im Heuhaufen beginnt. 500 Meter über dem Wasser wird ein Suchmuster abgeflogen. Dabei versuchen die vier bis fünf Besatzungsmitglieder jeden Winkel des Fliegers auszunutzen. Wird ein Boot entdeckt, geht Stadelmann noch tiefer, um die Situation besser sehen und einschätzen zu können. Handelt es sich um ein Boot in Seenot, wird sofort ein Notruf abgesetzt und Hilfe angefordert. Ansonsten dokumentiert HPI die Situation möglichst genau und gibt die Unterlagen an die Behörden und zivile Partner weiter. «Es gibt Tage, da sind 30 Boote draussen, an anderen Tagen passiert gar nichts», sagt Pascal Stadelmann. Die Flüge sind nicht nur psychisch, sondern auch physisch sehr belastend. Im Flieger ist es extrem heiss. Eine Klimaanlage fehlt. So kann zwar Treibstoff gespart werden, dafür wird es im Cockpit bis zu 50 Grad heiss. Hinzu kommt die emotionale Komponente. Wenn Stadelmann Sachen sieht, die «nicht so toll sind». Etwa, wenn Flüchtlingsboote von der libyschen Küstenwache in illegalen Pushbacks zurückgedrängt werden. Oder wenn die Crew weiss, dass irgendwo unter ihnen ein Boot ist, sie dieses jedoch nicht finden kann, der Sprit ausgeht und sie umkehren muss. «Das ist dann richtig hart», sagt er. Zurück auf Lampedusa geht es für die Mitglieder von Sea-Watch und HPI zum Crewhaus, wo alle wohnen. Für Pascal Stadelmann steht ein weiterer Flug nach Malta oder Palermo an, um aufzutanken. Einige Stunden später sitzt auch er auf der Dachterrasse, wo bei einem Bier das Debriefing ansteht und die Mitglieder den Einsatz Revue passieren lassen. «Es sind schon sehr lange Tage, gerade im Hochsommer, wenn fast immer Chaos herrscht auf dem Meer», sagt Stadelmann. Die Flugzeiten seien zwar ausgereizt, aber im legalen Rahmen. «Nichtsdestotrotz: Eine Woche auf Lampedusa bringt mich an meine Grenzen.» Und so ist es eines der Ziele von HPI, noch mehr Piloten zu rekrutieren, um die Schichten besser

verteilen zu können. Ein anderes ist es, die ehrenamtlichen Mitarbeitenden entlöhnen zu können. Pascal Stadelmann wünscht sich, sein Arbeitspensum künftig je zur Hälf- te auf Linienflüge und humanitäre Einsätze über dem Mittelmeer verteilen zu können. Vor Ausbruch der Coronapandemie galt es für ihn, Wege zu finden, um beide Engagements unter einen Hut zu bringen. Unbezahlter Urlaub oder eine gute Koordinierung der freien Tage ermöglichten es ihm, über einen längeren Zeitraum am Mittelmeer aktiv zu sein.


Zwischen zwei Welten

Es sind gänzlich verschiedene Welten, in denen sich Pascal Stadelmann bewegt. Hier die Menschen, die für Ferien in einen Flieger steigen, da Flüchtlinge, die sich auf der Suche nach einem sichereren Leben in masslos überfüllte Boote setzen und den Tod in Kauf nehmen. «Man schaut die Probleme der Leute im Linienflieger anders an und fragt sich, ob das wirklich ihre grössten Sorgen sind», sagt er. Noch krasser nehme er den Kontrast jedoch auf Lampedusa wahr. «Im Sommer ist dort Hochsaison. Die Touristen feiern Party auf der Via Roma, 50 Meter entfernt von ihnen kommen die Flüchtlingsboote an.» Im April kehrt Pascal Stadelmann zurück auf die kleine Mittelmeerinsel. Seine Mission auf Lampedusa ist noch längst nicht beendet. «Es wäre schön, wenn niemand mehr flüchten müsste. Doch ich bin nicht blauäugig: Es wird immer Menschen geben, die für ein sichereres Leben ihr eigenes aufs Spiel setzen.» https://www.willisauerbote.ch/kanton/luzern/2023-01-09/der-adler-ueber-dem-mittelmeer

Mo 09.01.2023 - 08:00

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